VAS – Verein Arbeitsgruppe Strasshof

Strasshof an der Nordbahn. Die NS-Geschichte eines Ortes und ihre Aufarbeitung

BuchcoverIrene Suchy: Strasshof an der Nordbahn. Die NS-Geschichte eines Ortes und ihre Aufarbeitung. Wien 2012;  Metroverlag;  ISBN:  978-3-9930005-4-7.
Teils von Acker, teils von Wald, teils von Gebäuden bedeckt, verfallen die letzten baulichen Überreste des 1945 aufgelösten Durchgangslagers Strasshof von Jahr zu Jahr mehr. Dort wo sich einst das Lagertor befand, hat ein Fuhrunternehmen seine Garagen errichtet. Dahinter stehen auf dem Boden des ehemaligen Lagergeländes noch die Reste eines in den achtziger Jahren gebauten und wenig später gescheiterten Freizeitclubs. Die in den Boden gemauerten Bunker, bis in die neunziger Jahre von Kindern als Abenteuerspielplatz genutzt, wurden zugeschüttet, die letzten gemauerten Barackenfundamente versinken bereits seit längerem unter der Grasnabe.

Über die Erinnerung an die Existenz dieses Lagers, durch das während der Herrschaft des Nationalsozialismus zehntausende zur Zwangsarbeit nach Ostösterreich verschleppte Menschen aus ganz Europa hindurchgegangen waren, war im Ort  genau so das Gras gewachsen. Nur manchmal verirrten sich ehemalige Internierte aus Ungarn, der Ukraine, Russland, Frankreich oder Griechenland – um nur einige der Herkunftsländer zu nennen –  auf dem Gelände, um nach den Spuren ihrer dort geraubten Jugend zu suchen. Fündig wurden sie nicht. An das Strasshof, das vor 1945 in ganz Europa bekannt war, ob als „Strafhof“ in Russland oder als „Stresshof“ in Griechenland, erinnerten im Ort nur mehr ein paar Zeilen in der Ortschronik. Daran etwas zu ändern, beschloss der Verein „Arbeitsgruppe Strasshof“, als der Name „Strasshof“ zum zweiten Mal in ganz Europa bekannt wurde und machte sich auf die Spurensuche nach der Geschichte des Lagers.

Das vorläufige Resultat dieser Suche ist das von der Musikwissenschaftlerin und Ö1­-Redakteurin Irene Suchy verfasste Buch „Strasshof an der Nordbahn. Die NS-Geschichte eines Ortes und ihre Aufarbeitung.“ Gemeinsam mit der Arbeitsgruppe, der sie als Obfrau vorstand, hat sie zuvor gut zwei Jahre Dokumente und Erinnerungstücke gesammelt, Interviews sowohl mit den Menschen vor Ort wie auch mit den ehemaligen Opfern geführt, in Archiven recherchiert und war den Spuren des bis dahin in wissenschaftlichen Publikationen beinahe nur in Fußnoten erwähnten Lagers Strasshof gefolgt. Die umfangreichen Ergebnisse dieser Arbeit finden sich in diesem Buch wieder.

Im ersten Kapitel führt die Autorin hin zum ehemaligen Tatort, der wie die Recherchen ergaben nicht nur ein einziges exterritorial – wie früher von der Gemeinde immer betont – und abseits vom Ort errichtetes Lager war, sondern vielmehr ein ganzer, den Ort überziehender Komplex mit einem zentralen Verteilungslager und sechs kleineren Arbeitslagern. Dort wurden jene gefangen gehalten, die vor Ort für alle sichtbar für die Reichsbahn, in der Landwirtschaft oder am Bau des Flugplatzes zur Arbeit gezwungen wurden. Die Erinnerung an diese Menschen holte Irene Suchy in Interviews zurück, die sie mit den Einwohnern und Einwohnerinnen aus Strasshof führte, die damals als Kinder und Jugendliche hier aufwuchsen. Ebenso zu Wort kommen die Stimmen der Opfer, die zu suchen, sich die Autorin zur Aufgabe gemacht hat. Sie fand sie in Ungarn, wo sie mit Überlebenden der Transporte vom Sommer 1944 sprach. Über 21.000 Juden und Jüdinnen brachte die Reichsbahn damals ins Lager Strasshof, wo sie zu Zwangsarbeit in Ostösterreich verteilt wurden. Viele von ihnen empfanden es bereits als Glück nicht sofort nach ihrer Ankunft ermordet zu werden, wie Hundertausende jüdische Deportierte aus Ungarn, die von der SS direkt nach Auschwitz verbracht worden waren. Die ins Durchgangslager Strasshof deportierten hatten zwar eine höhere Chance zu überleben, dennoch bezeugen die Erinnerung dieser Menschen wie grausam die Behandlung war: Erst in einem Güterwaggon zusammengepfercht, wurden sie gemeinsam mit den Leichen, der während der mehrtägigen Fahrt verstorbenen vor dem Durchgangslager ausgeladen, litten unter der unzureichenden Ernährung und mussten die Misshandlungen der Lagerwachen erleiden. Der Perspektive dieser Täter spürte die Autorin in Archivdokumenten nach, so etwa in  Zeugenaussagen die für den Kriegsverbrecherprozess gegen den ehemaligen Leiter das Bahnbetriebswerks Strasshof Heinrich Weinberger gesammelt worden waren. Aus allen diesen Quellen speist sich ein Fluss von vergessenen Fakten und verdrängten Erinnerungen, der dem Leser und der Leserin erstmals einen Überblick über die Geschichte des Lagerkomplexes Strasshof bietet. Zur besseren Übersicht hat die Autorin ihrem Buch auch eine Chronik beigefügt, in der sie Ereignisse aus der Region Strasshof, Österreichs und der Herkunftsländer der Opfer nebeneinander aufführt und so auch jenen einen soliden Faktenrahmen zur Verfügung stellt, die mit den geschichtlichen Abläufen weniger vertraut sind.

Jenen, die darauf ein tieferes Interesse an den Lebensgeschichten der Opfer gefunden haben, bietet das Buch ausführliche Interviews mit drei überlebenden Deportierten aus Ungarn Peter Kádár, Tibor Drucker und Juliana Buk. In Strasshof befragte die Autorin die ehemalige Gattin des örtlichen Elektrofachhändlers Charlotte Schneider und den Altbürgermeister Josef Neidhart. Deren Erinnerungen an die NS-Zeit finden sich ebenfalls als Interviews im Buch wieder.

Ein Beitrag von Judith Eiblmayr ermöglicht einen schrägen Einstieg in die Vergangenheit von Strasshof selbst. Abseits der üblichen Wege einer Ortschronik erschließt er die Geschichte Strasshofs, dessen Besiedlung ja erst Anfang des 20. Jahrhunderts begann, anhand der städtebaulichen Planung vom ersten Entwurf einer Gartensiedlung für Industriearbeiter über den chaotischen Besiedlungsprozess der Zwischenkriegszeit hin zur Ausprägung einer dezentralisierten suburbanen Struktur in der Nachkriegszeit.
Den bedrückenden Abschluss des Buches bildet die Menschenliste, der im Lager Strasshof zu Tode gekommen und ihrer Freiheit beraubten Menschen. Gut ein Drittel des Buches nimmt diese keinesfalls als vollständig anzusehende Liste ein, welche die Namen der Opfer und wenn möglich deren Geburtsdatum und –ort als auch Sterbedatum und –ort beinhaltet; ein Versuch auch die Erinnerung an jene zu bewahren, deren Leben von der Terrorherrschaft des Nationalsozialismus geschädigt oder vernichtet wurde und von denen außer diesen schmalen Spuren sonst nichts geblieben ist. Gerade der Versuch diese zu bewahren, zeichnet dieses Buch aus.